Page 7 - Magazin 2022/2023
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Die BEGINNEN WIR DOCH MIT EINER VER- Wildnis kann man nicht einschalten. Die Na- 7 | IM DIALOG
MEINTLICH BANALEN FRAGE: WAS IST
tur hält sich nicht an Planungen, die macht ihr
WILDNIS?
Ding.
Natur Erich Weigand Ein Biologe wie ich tut sich EW Wir stehen uns mit unserem linearen
Denken im Weg. Doch die Natur denkt ver-
mit einer Definition sehr leicht: Wildnis ist
der naturgemäße Zustand ohne nachhaltigen
netzt.
menschlichen Einfluss. Aber wenn man dieser
Definition folgt und an den menschengemach-
ten Klimawandel als massiven Einfluss auf alle KÖNNEN PROFIS WIE SIE EINEN
ALTEN KULTURWALD AUF EINEN
HÄLT SICH NICHT Ökosysteme denkt, stellt sich ganz prinzipiell BLICK VON WALDWILDNIS
die Frage, ob wir heute überhaupt noch von
UNTERSCHEIDEN?
AN PLANUNGEN Wildnis sprechen können.
NEHMEN WIR DER EINFACHHEIT HAL- EW Es braucht Jahre, das zu lernen und ist
BER AN, DASS ES TROTZDEM NOCH mit einmal Hinschauen nicht getan: Man muss
WILDNIS GIBT: WIE GEHT ES IHR? den Waldaufbau begutachten und sich ein
Bild machen, welche Pilze, Tiere und Pflanzen
da sind. Ein sicheres Zeichen für Waldwildnis
Alexander Schuster Im Nationalpark Kalkalpen sind Urwaldreliktarten, die jahrhundertealte
ist sie gut aufgehoben. Er ist der Rahmen, in Bäume zum Leben brauchen. Wir haben bis-
den wir nicht mehr physisch eingreifen – aber her über 40 Arten bei uns nachgewiesen; der
sehr genau beobachten, was in der Natur viel größere und wissenschaftlich besser aus-
passiert, wenn man sie sich selbst überlässt. gestattete Nationalpark Bayerischer Wald hält
erst bei 20.
UND DAS WÄRE? AS Was passiert, ist genau genommen nur
eine Annäherung an die Wildnisvergangen-
Aus unterschiedlichen EW Indem wir den menschlichen Einfluss heit. Wir wissen nicht genau, wie unsere Wäl-
der vor Tausenden Jahren ausgesehen haben.
Richtungen kommend, unter die Nachhaltigkeitsgrenze zurückneh- Wir dürfen aber annehmen, dass Megafauna
wie Waldelefant und Waldnashorn große
men, entsteht das, was wir Wissenschaftler als
Lichtungen geschaffen haben, die für viele
sekundäre Wildnis bezeichnen. Das ist etwas
haben Erich Weigand anderes als primäre Waldwildnis, die wir Arten lebensnotwendig sind. Die biologische
landläufig – aber wissenschaftlich falsch – als
Funktion dieser Lichtungen übernehmen
und Alexander Urwald bezeichnen. heute die Almen im Nationalpark.
Schuster auf DIE NATUR KEHRT ALSO NICHT ZU DAS HEISST, WILDNIS UND KULTUR-
IHREM URZUSTAND ZURÜCK?
LANDSCHAFT STEHEN NICHT ZWIN-
verschiedene Weise GEND IM WIDERSPRUCH?
mit der Wildnis im EW Die Natur entwickelt sich immer weiter, EW Gar nicht. Auch die von menschlicher
sie kehrt nie an einen Ursprung zurück. Die
Hand bewirkte Dynamik, die durch die ex-
primäre Waldwildnis hat bei uns punktuell
Nationalpark Kalkalpen an den am schwersten zugänglichen Stellen tensive Bewirtschaftung von Kulturflächen
entsteht, ist sehr förderlich für den Artenreich-
in steilen Gräben überlebt; aber auch in den
zu tun: Weigand Waldinseln, die auf Anordnung der Fürsten tum.
Lamberg als Einstände für das Rotwild
als hauptamtlicher stehen bleiben mussten. Heute entsteht die AS Solche Almen der Verwilderung und
Artenvielfalt zuerst auf nordseitig gelegenen
Verwaldung auszusetzen, wäre kontrapro-
Forscher, Schuster und nur lückenhaft bewaldeten Steilhängen duktiv. Im Übrigen ist das Netz des Lebens
mit seichten Böden von Neuem. In einem
im Nationalpark von heute bei allem Arten-
Lawinenstrich ist die Artenvielfalt zwanzig- bis
reichtum unvollständig: Es fehlt noch an den
als Experte für fünfzigmal höher als in einem bewirtschafte- großen Weidetieren wie Wisent sowie Jägern
und Beutegreifern wie dem Wolf, der Druck
ten Wald.
Naturschutz des AS In der Gründungszeit haben wir geglaubt, auf die Füchse macht und zusammen mit
dem Bären für ein ganz anders ausbalancier-
Landes Oberösterreich. wir müssten den Wald beim Umbau in Rich- tes Gleichgewicht im sensiblen Verhältnis der
Arten sorgen würde.
tung ursprüngliche Artenvielfalt unterstützen
RAUS! hat mit ihnen – und waren überrascht, dass die Veränderun- ABSCHLIESSENDE FRAGE:
gen in einem unerwartet schnellen Tempo
WOZU BRAUCHEN WIR WILDNIS?
passieren. Windwürfe, der Borkenkäfer, die
über ihr wildes Metier angesprochenen Lawinen und Waldbrände EW Unter anderem zum Schutz vor einge-
haben die Entwicklung in Richtung sekundäre
gesprochen. Wildnis beschleunigt. Wir haben gelernt: schleppten invasiven Arten. Da gibt es nichts
Effizienteres als die Wildnis.
DR. ALEXANDER SCHUSTER DR. ERICH WEIGAND
Vor 20 Jahren kam er als Spezialist für europäischen ist gelernter Bautechniker, der seinen Job bei der Wild-
Naturschutz, Ornithologie, Heuschrecken und vieles bachverbauung in Kärnten kündigte, um in die Forst-
mehr zum Naturschutz des Landes OÖ. Als Mitarbeiter wirtschaft zu wechseln und Biologie mit Schwerpunkt
der Direktion für Landesplanung, wirtschaftliche und Zoologie zu studieren. Nach einer Station beim Umwelt-
ländliche Entwicklung begleitet er seither den National- bundesamt ist er seit 2000 als leitender Wissenschaftler
park Kalkalpen; auch als Sachverständiger in Verfahren. im Nationalpark Kalkalpen tätig und wirkt auch im Na-
tionalpark Hohe Tauern an der Ranger-Ausbildung mit.